Philosophie hilft beim Wagen-Lenken

17/7/18 +++ Philosophie heilt nicht, hilft aber durchaus: beim Denken und beim Lenken. Kleine Anmerkung zu einem alten Denk-Bild, das heute wieder wichtig sein könnte: Der Wagenlenker.

Im letzten PPL-Blogbeitrag hatte ich in Frage gestellt, dass Philosophie wirklich „heilt“. Heute möchte ich einen realitätsnahen Aspekt hinzufügen, der dann doch mit „Heilung“ im Sinne individuell-psychischer und sozialpsychologischer „Gesundheit“ zu tun hat.

Ein bekanntes Leit-Bild eines der Hauptväter der abendländischen Philosophie ist „der Wagenlenker“. Platon erzählt die mythische Metapher (oder auch Allegorie) von der menschlichen Seele unter anderem ausführlich im Dialog „Phaidros“. Der Wagenlenker, der zwei Rosse im Zaum hält und sich mit ihnen im Streitwagen voran bewegt, hat es seither zu einer abendländischen Karriere bis hinein in die moderne Psychologie gebracht. Wobei verschiedene Interpretationsvolten geschlagen wurden und werden. Das Wesentliche am Bild aber bleibt: Die lebendige „Seele“ besteht vor allem aus drei Teilen, nämlich der unmittelbaren Begierde (Ross des „Epithymos“/epithymotikon), dem Willens-Gefühl (Ross des „Thymos“/thymotikon) und der steuernden Vernunft (Wagenlenker, logistikon). Eine Pointe bei Platon ist: Jeder Teil trägt zum voranschreitenden Leben sinnvoll-notwendig bei. So erwächst aus der Erfahrung des unterleiblichen Begehrens die Einsicht und Tugend der Mäßigung, aus dem Zorn in der Brust die Tugend des Mutes und aus der Fähigkeit zur lenkenden Reflexion die Weisheit.

In unseren oft wirren Tagen der öffentlich ausgestellten „Unvernunft“ mag es sinnvoll sein, an den tiefen Sinn so eines abendländischen Grundbildes wieder einmal zu erinnern. Nur leicht interpretatorisch verschoben und direkt angewandt lässt sich sagen: Worauf es in diesen „losgelassenen“ Zeiten durchaus ankommt, ist das (Wieder-) Hinzufügen der lenkenden Vernunft zum „wilden“ Treiben der impulsiven Rosse. Anthropologisch ganz konservativ geht es um die im Privaten wie im Öffentlichen wieder einzufordernde vernünftige Impuls- oder „Selbstkontrolle“.

Offensichtlich vereinseitigendes, auch politstrategisch oft nicht mehr zu rechtfertigendes Impuls-Verhalten legen Woche für Woche mächtige öffentliche Männer wie Trump, Putin oder bei uns Seehofer an den Tag. Aber auch im Privaten-Kleinen folgen sehr viele Menschen ihren ganz egoistisch-zufälligen, dabei seltsam ungerichteten Impulsen (in Brust und Unterleib, als Zorn und Gier), etwa wenn sie beim Autofahren - dem täglichen Wagen-Lenken - völlig sinnfrei, aber umso aggressiver agieren oder ihre Nachbarn mit Bumm-Bumm-Dauerbeschallung auf dem Balkon zu nachtschlafender Zeit traktieren. Aber sicher auch, wenn sie mehr oder weniger neonazistische Denk- und Verhaltensweisen wie etwa in der AfD-Diskurswelt offensichtlich stützen oder gar bejubeln. Dieser erstaunlich breit akzeptierte und unverstandene Alltagsterrorismus ist möglicherweise ein durchaus wesentliches Kultur-Merkmal einer gesellschaftlich-diskursiven System-Welt, deren Subjekt-Elemente massenhaft mit Smartphone und Ohrhörern in ihrer persönlichen oder ihrer Peer-Group-Cloud über den Gehsteig (früher mal: Bürger-Steig) schweben – und von der „realen“, gesellschaftlich-gemeinsamen Welt kaum mehr etwas mitbekommen. Was leider offenbar immer geht: Sündenbock-orientiertes Schimpfen. Dem Thymos sei Dank.

Kulturkritisch weiter ausgreifend lässt sich hier womöglich von einer durchgesetzten kulturellen Proletarisierung in der Facebook- und Event-Gesellschaft sprechen, in der die früher der Vernunft zugeschriebenen Fähigkeiten des Erkennens realer, eigener und fremder Interessen und des Blickes über den egozentrischen „Tellerrand“ (bis hin zur moralischen Imperativ-Forderung nach Kant!) schlicht massenhaft verloren gegangen sind. Vielleicht hat das in (West-) Deutschland kulturhistorisch auch damit zu tun, dass der „Authentizitäts“-Diskurs der 70er Jahre und die absolute Werte- oder Qualitäten-Relativierung einer seltsam missverstandenen „Postmoderne“ der 80er Jahre auf durchaus fragwürdige Weise moralische und ästhetische Kriterien bis ins Bildungssystem hinein gewissermaßen abgeschafft haben. (Im Osten des Landes ist es vermutlich eher die psychisch ins Ewige vererbte Opferrolle, die den Zulauf der Blind-Zornigen bei Pöbelveranstaltungen aller Art erklärt, aber das erforderte jetzt eigene Psycho-Analysen.)

Die platonische Wagenlenker-Vernunft sollte jedenfalls heute ihre politisch-ökonomisch-praktische Kraft wieder einbringen. Sie sollte vor allem Un-Sinn bekämpfen, wo es geht, zum Beispiel das politisch ablenkende Heimat-Gefasel der letzten Monate abstellen (Leute, Heimat ist einfach Privatsache!) - und stattdessen eine „vernünftige“ (sic) Daseinsvorsorge und Teilhabe für ALLE Mitglieder der Gesellschaft im europäischen und sogar globalen Zusammenhang einfordern. Dann weitet sich mittelfristig auch die zornige Brust der vom überstarken Zorn-Thymos Betroffenen, ist zumindest zu hoffen. Dazu gehört sicher auch eine Gerechtigkeitsstrategie neuer Art, die dem immer noch hintergründig und global vorausgesetzten, oft zerstörerischen Neo-Liberalismus endlich den Garaus macht. Es gibt ja – um es mal auf unser Land zu beschränken – schlicht keinen haltbaren Grund (das philosophische Kriterium!), warum wenige immer reicher und viele immer ärmer werden sollen, was hier faktisch geschieht. Wie es – um ein beispielhaftes, wesentliches Detail, leider öffentlich unthematisiert, zu benennen – keinen wirklichen Grund gibt, willkürliche „Bemessungsgrenzen“ in die Sozialversicherungssysteme aufzunehmen und damit ausgerechnet den tatsächlich Wohlhabenden zu ermöglichen, deutlich weniger Solidarität in die Gesellschaft einzubringen, als es ihren Möglichkeiten (und einer rechnerischen Gerechtigkeit) entspräche. Was eine steuernde Vernunft nach Wagenlenker-Art in jedem Fall weiß: Eine funktionierende und langfristig überlebensfähige Gesellschaft ist zentral auf Solidarität ihrer Mitglieder und dafür auf ein basales Aufeinander-Miteinander-Vertrauen angewiesen, das heute leider ausgehöhlt ist, eben auch weil das Thema „Selbstkontrolle“ in Öffentlichkeit und Erziehungswesen kaum mehr präsent ist.

Was diese wenigen Hinweise insgesamt nur sagen wollen: Das Nach-Denken und ein das (politische wie persönliche) Leben „führendes“ Lenken haben im Prinzip (ontologisch, anthropologisch) und in der Realität (Gesellschaft, Ethik) miteinander zu tun. Jedenfalls, wenn man das alte Wagenlenker-Bild ernstnimmt. Also: Mögen wir alle unsere "Lenkungsaufgaben" erkennen und wenn nötig unsere inneren Impuls-Rosse so weit im Zaum halten, dass die Weisheit angemessenen Verhaltens obsiegt. Carpe Diem!

Blog