Ob Denken wirklich heilt?
13/2/18 +++ Einige philosophische Ratgeber reden seit ein paar Jahren regelmäßig davon, dass Denken „heile“. Ich halte das dann doch für übertrieben. „Gesunddenken“ geht nicht. Aber Selberdenken hilft trotzdem.
Ein Berliner „Mitte“-Philosophie-Berater hat aus dem Gedanken vom „Gesunddenken“ gleich mehrere kleine Bücher gemacht, alle unter dem Motto: „Denken heilt“. Im Rückgriff auf einen antiken „Sorge“-Stoizismus und andere Lebenskunst-Ansätze der inneren „Mitte“ (bei Aristoteles, aber auch aus dem antiken China und Indien) wird hier wie auch an anderen Stellen des mehr oder weniger philosophischen Praxis-Diskurses das Versprechen gemacht, der Einzelne könne sich durch vernünftiges Nachdenken und das Einüben von Lehrsätzen in allen wesentlichen Lebensfragen selber „heilen“.
Diese Lehrsätze sind in der Regel ziemlich einfach und in ihrer Zahl überschaubar. Vor allem geht es um die stetige bewusste Relativierung der je eigenen und gesellschaftlichen Werte sowie um das Sich-Konzentrieren auf den Blick nach innen, in die angenommene eigene „Mitte“, im Angesicht von menschlich-allzumenschlichen Phänomenen wie Tod, Trauer, Angst, Zorn und anderen „negativen“ Themen und Gefühlen.
Nun, dagegen ist ja zunächst mal nichts zu sagen, solange es um Ratschläge zum Denk-Training und zum Umgang mit den eigenen Impulsen geht. Allerdings folgt daraus nur in den seltensten Fällen die Fähigkeit, sich zu „heilen“, wenn das Wort in einem ernsthaften Sinne gebraucht werden soll. Denn wer zum Beispiel tatsächlich in einem krankhaften, also heilungsbedürftigen Sinne an „Ängsten“ leidet, kann sie sicher nicht „wegdenken“, sondern braucht therapeutische Unterstützung, die philosophisch-allgemeine, gern historische Ratschläge so nicht bieten können. Ähnliches gilt für die vom verbreiteten „Burn-out“ Betroffenen, die ihre Depression (das ist wohl die eigentliche, definierbare Krankheit) auch nicht so einfach durch die im Diskurs-Hintergrund der Antike-Zitate liegenden psychologisch-statistischen, letztlich behavioristischen Tricks eines antrainierten, „positiv“-instrumentellen Selbstumgangs loswerden dürften.
Philosophisch interessant werden solche Heilungsfantasien eigentlich erst, wenn man sie in philosophischen Begriffen auf ihre Voraussetzungen hin befragt, zum Beispiel in anthropologischer Hinsicht: Vorausgesetzt wird unter anderem eine antik-klassische (ursprünglich platonische) „Wagenlenker-Seele“, in der die Vernunft mit Begierden und Gefühlen ringt und diese beiden „Pferde“ mehr oder weniger mühsam in der Spur hält. Ist dieses Bild vom menschlichen Innenleben das, was heute die Menschen überall in der globalen Welt betrifft und ihr Erleben hilfreich beschreibt? Ähnliche Fragen wären in ontologischer (seinsbeschreibender) oder werttheoretischer Hinsicht (Haben wir überhaupt eine Seele? Ist der „Mitte“-Wert der letztgültige?) oder auch in anderen Kategorien leicht zu stellen.
In jedem Fall scheint mir der einfache „Lebenshilfe“-Umgang mit den immer gleichen, vorchristlichen Antike-Zitaten zu kurz gegriffen, wenn es darum geht, dem jeweils Einzelnen in seiner je eigenen Welt-Konstruktion heute philosophisch hilfreich zur Seite zu stehen. (Alte) Leitsätze heilen halt nicht wirklich (heute). Die Kultur- und Technikgeschichte des (nicht mehr, aber doch noch) „christlichen“ Abendlands hat durchaus scheinbare Grundlagen verändert und dem einzelnen Menschen vielfältige Selbstbild-Aufgaben gestellt, an die ein antiker Denker tatsächlich nicht denken konnte; denken wir nur an die heute virulenten Fragen von künstlicher Intelligenz und Maschinen-Lebewesen, die unsere ganze („Seelen“-) Anthropologie kippen könnten.
Für den denkenden Einzelnen sollten deshalb philosophisch umfassendere (nicht nur antike) Angebote zum Selbstbild-Gespräch gemacht werden, also zur Selbstreflexion, die manchmal auch „heilende“, stets aber hilfreiche Gehirn-„Aufräum“-Effekte hat. Aus Beratersicht geht es hier um die transzendental und phänomenologisch (dabei auch wertetechnisch) unvoreingenommene Betrachtung und selbstreflexive Bearbeitung jeweiliger eigener Lebensgrund- und -glaubenssätze in vielerlei sehr individuellen Kontexten, wie sie in meiner Methodendarstellung der „Trichter des eigenen Lebens“ bietet.
Natürlich kommen in einem solchen Reflexionsprozess auch aus der Antike stammende Allgemeinplatzregeln zur Sprache, zum Beispiel: Entspannung ist gegenüber Hektik wünschenswert; in der eigenen „Mitte“ zu sein ist normalerweise angenehmer als in den Extremen des Fühlens usw. Aber hinzu treten beispielsweise das kritische Subjekt-Denken in unserer Kultur (und damit immer schon in den Köpfen der jeweils Einzelnen!) und die in den letzten Jahrzehnten diskursprägenden, aufwändig zusammengedachten konstruktivistischen Vorstellungswelten. So haben etwa kantische Annahmen und Imperative (stets diskussionswürdig: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung sein könnte.“) ebenso Bedeutung für manche Einzelne wie für andere ein dezidiert „postmodernes“ Weltbildkonstrukt bis hin zur absoluten Relativität allen Denkens, Fühlens und Argumentierens.
Was im Gespräch mit offenem, phänomenal-betrachtendem Ansatz dann häufig auffällt: „Ataraxia“ (Seelenruhe) und „Aponia“ (Schmerzfreiheit) müssen offenbar nicht die einzigen oder letzten Sinn-Ziele des vitalen Antriebs von realen Menschen sein. (Leibphänomenologisch interpretiert: Der leibliche Antrieb muss durchaus nicht nur auf „Weitung“ zielen, vielleicht eher auf Rhythmik in den Schwankungen oder im Wechsel von Engung und Weitung, aber das ist eine Spezialistenfrage.) Vielleicht gibt es sogar verschiedene vitale Antriebe bei verschiedener Menschen (-Typen)? Sogar der in der Mitte-Psychologie gern verschmähte „Thymos“-Zorn könnte so auch philosophisch durchaus als erwünschter persönlicher Lebensantrieb rettbar sein, wie es Sloterdijk in einigen kleineren Schriften versucht hat. Und zum Beispiel der Tod kann moderne Einzelne durchaus in anderer Weise betreffen, als der gute Epikur sich das gelassen-rationalisierend vorgestellt hat.
All dies und vieles mehr ist in der philosophischen Beratung absolut ernst zu nehmen und nicht durch allgemeine „Mitte“-Lehr- und -Leersätze wegzuschieben. Dann kann ein philosophisches Gespräch wahrheitsorientiert-führend werden und zu so etwas wie Selbst-Führung mithilfe von Selberdenken beitragen. Das ist weit mehr, als Regelbücher vermögen, aber doch weniger als ein Heilsversprechen. Auch diesseits des „Heils“ gibt es ein sinnvoll lebbares Leben. Carpe diem.