Nachdenken über das eigene "Ethos"

12/5/19 +++ Kennen Sie Heraklit? In der Geschichte der Philosophie vor der eigentlichen Philosophiegeschichte, als der später so genannte abendländische Mensch die Selbstreflexion erst entdeckte, bezeichnen schon die ersten Überlieferer ihn gern als "den Dunklen" unter den Vorsokratikern.

Aber so dunkel ist er gar nicht, eher schon: hell, wenn damit gemeint ist, dass er das Licht des eigenen Denkens anzünden kann. Auch (oder gerade) heute noch (oder wieder). Zum Beispiel mit einem Satz wie diesem, auf den ich gestern Abend im Lesesessel gestoßen bin - ein Satz wie ein alter Baum: "Ethos Anthropo Daimon" - oder eigentlich (abgesehen von Behauchungs- und Akzentzeichen, die der Zeichensatz an dieser Stelle nicht hergibt): "ηθος ανθρωπω δαιμων".

Wie soll man dieses Fragment 102 nun übersetzen? Die klassische (Lehrbuch-) Übersetzung (etwa bei Diels/Kranz bzw. Mansfeld) lautet: "Des Menschen Verhalten (oder: Charakter) ist sein Schicksal."

Hm. Verhalten ODER Charakter. Interessante Vorstellung des Übersetzers, das eine ins andere sozusagen übergehen zu lassen, wohl weil man sich bei der Übertragung verschiedener altgriechischer Texte stets nur schwer entscheiden kann. (Gibt halt keine Live-Mitschnitte, gell. Wir befinden uns so um 500 v. Chr.)

Dabei könnte man auch das griechische Wort beibehalten, um zu treffen, was den selbstreflexiven Menschen offenbar immer schon bewegt hat: sein "Ethos". Worunter neben "Sitte" und "Brauch" auch im Griechischen schon die eigene "Gesittung" verstanden wird, also die bewusste Gestaltung der eigenen Person im sozialen Zusammenhang. Manche sagen: die eigene "Gewohnheit", ich sage gern: Haltung. Die Selbstgestaltungsaufgabe in diesem Satz geht verloren, wenn aus "Ethos" einfach "Verhalten" oder (festgelegter) "Charakter" wird.

Und wieso "Schicksal"? Der griechische "Daimon" muss nicht unbedingt als unentrinnbare Übermacht gedeutet (und übersetzt) werden. Das berühmte "Daimonion" des platonischen bzw. des historischen Sokrates (zur Einordnung sagen wir: eine Philosophengeneration oder ca. 75 Jahre später) war jedenfalls mehr ein starker innerer Ratgeber als äußerliche Zwangsmacht.

"Ethos Anthropo Daimon" kann also, will ich sagen, auch heißen: "Die Selbstgestaltung ist des Menschen leitende Aufgabe." Oder: "Seine Haltung ist der Kern des Menschen." Oder so ähnlich. Die deutschen "Klassiker" (die übertreibenden Griechenlandbewunderer) des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts hatten so einen Spruch auch stets parat. Daraus ist eine bis heute bekannte Redensart geworden: "Des Menschen Wille ist sein Himmelreich." (So wird der Satz gern von Heinse zitiert.) Nur heißt das gerade nicht, dass jeder tun soll, was sein impulsiver Momentan-Wille ihm gerade eingibt, sondern eben dass man seinen Willen (oder seine Haltung) so formen soll, dass er dem eigenen Mensch-Sein gerecht wird. Und das geht wohl nur mit irgendeinem "transzendenten", also über das eigene (Spontan-) Ich "hinausweisenden" Bezug (auf Gott, die Gemeinschaft, eine gesellschaftliche Aufgabe oder auch ein "tieferes", verallgemeinerbares Selbst) im Denken und Handeln. Also ist das kein Freifahrtschein für Egozentrik, wie so mancher erlebnisorientierter Möchtegern-Individualist von heute ihn vielleicht gern hätte, sondern eine Aufforderung zur Besinnung, wie die Philosophen aller Zeiten sie vorgeschlagen haben. Danke, Heraklit.

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