Lese-Tipp: Das Phänomen im ironistischen Zeitalter

29/10/13 +++ Hermann Schmitz ist einer der wichtigsten deutschen Philosophen der Gegenwart. In seiner Einführung in die Neue Phänomenologie findet der Leser präzise Sätze über den Menschen in seiner leiblichen Erfahrungswirklichkeit und über unsere Zeit als ironistisches Zeitalter.

Wer als moderner Mensch anfängt, ernstlich über sich nachzudenken, gelangt zumeist ziemlich schnell zu der Erkenntnis: Ich bewege mich mit meinem Denken, Fühlen, Leben in einem Netzwerk von Konstruktionen, die ich aus mir selbst heraus kaum je in Frage stellen oder gar prinzipiell hintergehen kann. Das können gesellschaftliche und private Konventionen sein, wirtschaftliche "Zwänge" oder (in der Öffentlichkeit durchgesetzte) "Theorien", aber auch alltägliche (Schein-) Selbstverständlichkeiten wie "Meinungen" über dies und das. Die stärkste (Meta-) Konstruktion heute bildet wahrscheinlich die mediale Vernetzung über verschiedene Technologien. Oft "denkt" der Mensch, was ihm medial zugespielt wird. Woher auch sonst sollte er seine "Anschauungen" (die Ausgangsdaten seiner Welt-Interpretation) nehmen, woher seine "Standpunkte", die er ohnehin gelernt hat zu wechseln, wie es im jeweiligen Kontext des Augenblicks zu seinem Nutzen angezeigt scheint? Wo aber bleibt dabei das, was eine ehrwürdige philosophische Schule ein "Phänomen" nennt (also einen relativ unbestreitbaren Sachverhalt oder eine Tatsache für den oder die beteiligten Menschen)? Oder allgemeiner: Worauf, auf welche basalen "Fakten" des Lebens kann ich mich verlassen?

Mit solchen Gedanken kommt man aus eigenem Erleben zu Fragen, die Hermann Schmitz (Jahrgang 1928), lange Jahre Professor am Philosophischen Institut der Universität Kiel, in einem vielbändigen System der Philosophie (1964 bis 1980, leicht revidiert 1999) und vielen anderen Schriften eines langen Gelehrtenlebens aufgenommen und durchgearbeitet hat. 2009 gibt er eine "Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie", die seine Grundpositionen auf wenigen Seiten zusammenfasst. Aus diesem meinem heutigen Lese-Tipp zitiere ich nur zwei fundamentale Stellen, um wenigstens anzudeuten, worum es dieser von Schmitz geprägten philosophischen Richtung im Prinzip geht - und inwiefern das mit unser aller Leben zu tun hat.

1. Neue Phänomenologie

"Ein Phänomen für jemand zu einer Zeit ist ein Sachverhalt, dem der Betreffende nicht im Ernst den Glauben verweigern kann, dass es sich um eine Tatsache handelt." (S. 12)

"Die Neue Phänomenologie ... verfolgt die Aufgabe, den Menschen ihr wirkliches Leben begreiflich zu machen, das heißt, nach Abräumung geschichtlich geprägter Verkünstelungen die unwillkürliche Lebenserfahrung zusammenhängender Besinnung wieder zugänglich zu machen." (S. 7)

"Die phänomenologische Revision dient dazu, sich an die unwillkürliche Lebenserfahrung heranzutasten, d. h. an das, was Menschen merklich widerfährt, ohne dass sie es sich absichtlich zurechtgelegt haben. Die unwillkürliche Lebenserfahrung ist die letzte Instanz für alle Rechtfertigung von Behauptungen." (S. 13)

2. Ironistisches Zeitalter

"Friedrich Schlegel [bestimmte] die romantische Ironie als das Vermögen, sich von jedem Standpunkt zurückzuziehen und deshalb auch jeden einnehmen zu können. Damit eröffnete er das ironistische Zeitalter, das bis heute anhält. Kehrseite der Ironie ist die Angst als Höhenschwindel des Schwebens über den eigenen Möglichkeiten." (S. 26/27)

"Der Mensch des ironistischen Zeitalters [steht] inzwischen ohne vorgezeichnete Bahn vor dem Angebot unzähliger technischer Möglichkeiten, die ihn vereinnahmen, wenn er sich auf sie einlässt. Sie sind untereinander konstellationistisch vernetzt, für sein Belieben aber isoliert und ausgestreut. Er bringt zur Steuerung durch das ausgestreute Angebot kein Rückgrat, keine Linie mit, da er ironistisch darauf eingestellt ist, sich von allem abwenden und allem zuwenden zu können. Sein Ironismus ist erschlafft zur Passivität der Selbstverstrickung in die Führung durch vernetzte Angebote mit Scheinsouveränität beliebigen Wählens aus ihnen." (S. 27)

 

Darüber lohnt es sich - auch und gerade als "Gesichtsbuch"-Nutzer! - nachzudenken. Und Schmitz zu lesen...

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